Nachdenkliches Innehalten nach dem Sturm: Genua-Manöverkritik der Berner Autonomen
ANTI-WTO-KOORDINATION / Rund 80 Berner «Globalisierungsgegner» vornehmlich aus dem linksradikalen und autonomen Lager haben in der Reitschule die Wunden nach der Schlacht von Genua geleckt. Dabei wurde indes nicht bloss das äusserst brutale Vorgehen der italienischen Polizei beklagt, sondern auch viel (Selbst-)Kritik am Schwarzen Block geübt.
° RUDOLF GAFNER
In TV-Übertragungen von Anti-G-8-Kundgebungen in Genua waren auch schwarz-rote Fahnen von Anarchisten aus Bern zu sehen. 100 Aktive aus der Berner Szene nahmen am 20. Juli in zwei Gruppen am «Angriff auf die rote Zone» teil. Eine Gruppe reihte sich ein im Block der «Tute Bianche», der zivilen Ungehorsam propagierte, offensiver Gewalt jedoch abschwor. Eine andere Berner Gruppe marschierte, viele vermummt, im «Black Block» mit, der «proaktive Gewalt» als «legitimes Mittel» betrachtet, wozu «Angriffe auf Privateigentum und offensives Vorgehen gegen die Polizei» gehören, wie einer es sagte.
«Gut vorbereiten für Davos»
Ziemlich nahe dran waren Berner auch, als Carlo Giuliani, der mit einemFeuerlöscher auf ein Polizeiauto losging, erschossen wurde.
«Es hätte uns alle treffen können»; viele Berner hätten denn auch am Schweigemarsch teilgenommen, einige gar an Giulianis
Beerdigung. Gut in Erinnerung ist den Bernern auch noch der massive Tränengaseinsatz vom Samstag, 21.Juli, der eine
Massenpanik auszulösen drohte. «Die Schweizerinnen und Schweizer waren hier erfahrener. Wir wussten: Es tut weh, aber es geht
vorbei», prahlte einer. Nicht betroffen waren die Berner von der blutigen Razzia in einer Schule, wo Teilnehmende schlafen wollten:
«Als wir kamen, war das Haus bereits umstellt.» «Genua ist für die so genannte Antiglobalisierungsbewegung ein Wendepunkt,
diese Erfahrung gilt es auch für künftige Kampagnen in der Schweiz einzubeziehen», erklärte ein Wortführer der
Anti-WTO-Koordination am Diskussionsabend vom Montag in Berns Reitschule. Die Frage sei nun, wie umzugehen sei mit massiver
Polizeibrutalität, wie Genua sie offenbart habe. «Wir müssen uns gut vorbereiten fürs WEF in Davos.»
«Wirklich Angst vor Davos»
Interessant an der Diskussion in der Reitschule war aber nicht so sehr die Klage über die Polizei, die «in Genua ziemlich krass
drauf» gewesen sei. Erhellender war das Hinterfragen der «Demo»-Mechanismen im eigenen Lager, mithin die Selbstkritik.
Nachdenklichkeit prägte den Abend - und es zeigte sich: Berns Autonome sind weniger denn je ein homogener Block
vonBetonköpfen, es ist eine bunte Mischung diverser Strömungen. Einig waren sich alle, dass «es nicht reicht, sich zu artikulieren -
es müssen erweiterte Kampfmittel entwickelt werden». Militanz heisst indes noch nicht notwendigerweise Gewalt. Und die Gewalt des
Schwarzen Blockes in Genua sei, so ein Kritiker, ja doch «sehr kontraproduktiv» gewesen. Angst vor Gewalt schrecke viele von
Demonstrationen ab, sagte ein anderer. «Überall, wo der Black Block aufgetaucht ist, wurde der Demozug sofort massiv von der
Polizei angegriffen», sagte eine Frau, und eine andere bekannte, «wirklich Angst vor Davos» zu haben, denn «nach Göteborg und
Genua sehe ich eine Steigerung der Gewalt».
Fundis und Realos im Konflikt
AndereDiskutanten verwahrten sich dagegen, «den Schwarzen Block zum schwarzen Schaf der Bewegung zu machen» - umso mehr,
als einiges darauf hindeute, dass die Polizei die Vermummten mit agents provocateurs infiltriert habe. «Wir dürfen uns nicht mehr
spalten lassen, wenns ums Thema Gewalt geht.Wir sollten uns nicht öffentlich von einander distanzieren», sagte eine Frau. Nein,
hielt ihr ein Mann entgegen: «Wir sollten uns von Aktionen, die absolut keinen Sinn machen, distanzieren und es auch öffentlich
diskutieren können.» Ein weiterer, langjähriger Berner Anarcho-Aktivist erbat sich «eine differenziertere Auseinandersetzung» über
den Schwarzen Block. Da sei keineswegs Chaos angerichtet worden, vielmehr seien «gezielt Banken oder auch einKnast
angegriffen» worden: «Es gibt im SchwarzenBlock gewisse Strategien.» Hiergegen wiederum hielt ein Mann fest: «Nach aussen sieht
es krass aus, wenn man sich einfach gehen lässt und alles kurz und klein schlägt, wie es in Genua zum Teil passiert ist.» Applaus
im Publikum. Lauter noch geklatscht wurde, als eine Frau mit bebender Stimme ausrief: «Keine Helden! Keine Märtyrer! Keine
Machos!»
«Akzeptanz und Toleranz»
«Ich hätte für künftige Demos in Bern eine Anregung», meldete sich ein jüngerer Mann: «Wird auf aktive Gewalt verzichtet, würde
unsere Bewegung breiter.» 300 bis 500 Leute sollten es in einer Stadt wie Bern schon sein. «Voraussetzung für ein Anwachsen ist
aber, dass wir offener werden, mehr Akzeptanz und Toleranz praktizieren.» Nicht zuletzt müsse es auch darum gehen, die
Medienpräsenz zu verbessern. «Ja, wir sind in denMedien absolut nicht präsent mit der Frage, was wir wollen», sagte ein
anderer.Wieder gabs Applaus. «Wichtig ist, dass wir eine neue Form des militanten Widerstands finden», bilanzierte eine Frau. Die
Bewegung müsse «eine Stärke gewinnen, die auch nach aussen als Stärke vermittelt werden kann».