In Genua wurden alle Flügel des breiten Bündnisses Genoa Social Forum (GSF), GewerkschafterInnen, PazifistInnen, AktivistInnen aus besetzten Zentren, katholische Basisgemeinden, Tute Bianche usw. gleichermaßen verprügelt und stundenlang mit Tränengas eingedeckt. Die Botschaft war klar: Wer gegen die Weltwirtschaftsordnung demonstriert, ganz gleich in welcher Form, soll in Zukunft um Leib und Leben fürchten.
Doch trat in Italien der gegenteilige Effekt ein. Die Empörung über die Repression und den Mord an Carlo Giuliani mobilisierte noch mehr Menschen, und am Dienstag nach dem G 8- Gipfel waren im ganzen Land erneut 300 000 DemonstrantInnen auf den Straßen. Das GSF ist nicht zerbrochen, sondern mittlerweile zum überregionalen Italia Social Forum angewachsen, und über 300 Rechtsanwälte haben sich zum Genoa Legal Forum zusammengeschlossen, um ein internationales Tribunal zu organisieren.
In ihrer Gründungserklärung unterstreichen sie, dass sie sich für alle 49 noch Inhaftierten einsetzen: »Es gibt keine 'Bösen'«, so die Zurückweisung der offiziellen Darstellung, die versucht, einzelne »Gewalttäter« für die Eskalation verantwortlich zu machen. Der italienischen Anti-G 8-Bewegung ist es gelungen, sich nicht spalten zu lassen, und ihre Breite hat angesichts des geschickten Agierens der verschiedenen Bestandteile des GSF noch zugenommen.
Damit scheint sie zwei wichtige Lektionen aus der Vergangenheit umgesetzt zu haben: Dass sowohl Spaltungen als auch die Militarisierung von Auseinandersetzungen nur die Herrschenden begünstigen, und Gewaltdebatten vor allem geeignet sind, die politischen Inhalte von Widerstand öffentlich unsichtbar zu machen.
Auch führen Gewaltspiralen nach dem reaktiven Muster »Aktion-Repression-Aktion« nur dazu, dass die Bewegung immer mehr schrumpft und isolierter wird. Dieser Logik, die in Italien auch Erfahrungen aus der Autonomia-Zeit der siebziger Jahre widerspiegelt, wollten die Tute Bianche mit ihrem Konzept des »zivilen Ungehorsams« von Anfang an entgegentreten, da sie den Konflikt nicht als militärischen, sondern in erster Linie als politischen und gesellschaftlichen begreifen.
Zwar haben die Tute Bianche in Genua ihr selbst gesetztes Ziel, das Eindringen in die Rote Zone, nicht erreicht. Angesichts der polizeilichen Strategie undifferenzierten Terrors ist auch ihr Ansatz gescheitert, die Grenzen der Legitimität von Widerstand durch öffentlich hergestellte Akzeptanz zu erweitern. Doch belegt ihre deutliche Präsenz in der öffentlichen Debatte, dass es allenfalls eine taktische Niederlage war, keineswegs jedoch das Scheitern einer politischen Strategie oder einer ganzen Bewegung - wie es in Deutschland nach der Räumung der Mainzer Straße im November 1990 der Fall war. Auch die Tute Bianche wenden sich nun gegen eine Verdammung des Schwarzen Blocks, der in der von Medien und Staatsanwaltschaft proklamierten Homogenität ohnehin ein Konstrukt ist.
Ganz anders scheinen deutsche Linke die Ereignisse von Genua zu verarbeiten. Von ihnen gehen derzeit die stärksten Spaltungstendenzen aus. Da werden allerlei Gerüchte vorschnell aufgegriffen und verbreitet, offenbar in dem Eifer, das eigene Handeln als »besser« darzustellen als alle anderen Ansätze. NGO-Vertreter, z.B. aus dem deutschen Attac-Spektrum, fühlen sich zu Distanzierungen genauso bemüßigt wie militante Aktivisten, die sich von »den Bürgerlichen« abgrenzen.
Anstatt einer Debatte um zukünftige Strategien, wie die Weltwirtschaftsordnung angesichts der bisherigen Erfahrungen weiterhin delegitimiert und angegriffen werden kann, dominieren hierzulande derzeit einerseits die fruchtlose Gewaltdebatte, andererseits der entsetzte Blick ausschließlich auf die polizeiliche Repression.
In Italien hingegen wird nach vorn diskutiert. Während das GSF die Aufklärung des Geschehenen intensiv betreibt, kündigt es für Oktober und November erneute Massenmobilisierungen an. Bereits jetzt wird zu Protesten gegen den geplanten Nato-Gipfel am 26. und 27. November in Neapel aufgerufen. Und auch an anderen Fronten steht ein heißer Herbst bevor. Die Metaller der Fiom (die auch im GSF sind) wollen gegen die Tarifabschlüsse der rechten Gewerkschaften streiken und demonstrieren, und in den Schulen und Krankenhäusern beginnen Aktionen gegen die Privatisierung der Bildung und der medizinischen Versorgung.
Ob es gelingt, diese erfreuliche Dynamik auch außerhalb Italiens zu entfalten, liegt im Wesentlichen am Vorgehen der Linken, auch hier in Deutschland. Bisher steht in der Genua-Nachbereitung die Polizeibrutalität sehr stark im Vordergrund. Zweifellos brauchen die Inhaftierten und Misshandelten unsere Solidarität.
Doch ist es dringend notwendig, sich der erlebten neuen Qualität von Repression auch analytisch anzunähern und den Schock zu überwinden, um als Bewegung handlungsfähig zu bleiben. Die ausschließliche Betonung der maßlosen Repression läuft Gefahr, die großartigen Demonstrationen von Genua im Nachhinein geradezu als politischen Misserfolg erscheinen zu lassen und abschreckend zu wirken.
Diejenigen von uns, die vor Ort waren, haben dort wesentlich mehr erfahren als Polizeiprügel: die mit Abstand größten und stärksten Demonstrationen der letzten zehn Jahre; eine öffentlich gut verankerte, hervorragend koordinierte Widerstandsbewegung; internationale Begegnungen, die in Form und Inhalt sehr bereichernd waren; einen erheblichen Sachschaden, der zum großen Teil durchaus politisch zielgerichtet war und den ohnmächtigen Zorn der Ausgegrenzten dieser Welt gut auszudrücken vermag; die Erfahrung, dass auch Konfrontationen mit der Polizei organisiert und solidarisch, also gemeinsam durchgestanden werden können; und nicht zuletzt einen breiten Grundkonsens gegen den in alle Lebensbereiche vordringenden Terror der Ökonomie. Auf dieser Basis konnten in Genua die vielfältigsten Ansätze und Mittel zum Ausdruck kommen.
Gewiss, in allen Ländern koexistieren in dieser Bewegung verschiedene Positionen. Während die einen ihre Kritik auf den Finanzkapitalismus beschränken, wollen andere den Neoliberalismus als fundamentalistisches Denk-, Handlungs- und Steuerungsprinzip bekämpfen, welches die Existenzberechtigung von Menschen an deren ökonomischer Verwertbarkeit bemisst. Fakt ist jedoch, dass es keiner dieser Fraktionen einen politischen Nutzen bringen wird, die anderen öffentlich zu kritisieren und öffentlich abzuwerten. Das dürfte die Erfahrung ausreichend bewiesen haben.
Die Verhältnisse tatsächlich zum Tanzen bringen wird die Bewegung nur, solange sie aus ihrer heterogenen Zusammensetzung die maximale Energie zieht, d.h. wenn die verschiedenen Flügel sich vor allem unterstützen und sich auf gemeinsame Lernprozesse und ein produktives Nebeneinander einlassen. Schließlich muss niemand gegen seine Überzeugungen den »Reformisten« oder »Radikalinskis« beitreten - sondern es geht darum, gemeinsame Kämpfe zu führen.
Anstatt uns eine Diskussion über uns selbst, unsere »Identitäten« und Aktionsformen aufzwingen zu lassen, sollten wir den Blick nach vorn richten und uns dabei auf die Gemeinsamkeit stützen, die alle Strömungen eint. Wir sollten uns für die nächsten Treffen des globalen Entscheidungskartells besser koordinieren als bisher, unsere Unterschiede dabei als sich ergänzende Werkzeuge begreifen.
Wir sollten neue lokale Ansatzpunkte für Bündnisse und Aktionen suchen, die die positiven Erfahrungen aus Genua und anderen Orten auch hier nachvollziehbar machen. Wir alle haben erlebt, wie der vor allem seit der Wende in Deutschland grassierende Abgrenzungswahn, der die Reinheit der eigenen Position höher bewertet als gemeinsames Handeln, zu völliger Lähmung geführt hat. Wie können also Diskussionen, auch in der Jungle World, so gestaltet werden, dass sie Bewegungen zwar kritisch begleiten und ihren Blick schärfen, ohne aber jeglichen Ansatz von politischer Praxis wegen mangelnder Erfüllung des deutschen Reinheitsgebots zu torpedieren?
Die deutsche Linke sollte den Mut zu neuen Wegen aufbringen, und auch den Mut zu neuen Fehlern. Sicher, wer sich bewegt, kann Fehler machen, aber wer sich nicht bewegt, hat schon verloren.
Zuerst veröffentlicht in Jungle World vom 15.8.2001